Notizen, September 2023

Aphorismus: „gedichtselige Prosazeile“ (Benyoëtz) – oder Gedankenlyrik, die sich in Askese gegen das allzu Poesieselige ins Kostüm von Prosa hüllt?

Die Balken in den Augen der anderen sollten uns nicht die Splitter in den eigenen übersehen lassen.

Alles Geschriebene kommt von anderem her, das schon geschrieben steht, sei es auch unabsichtlich und unwissentlich.

Komparativ bei Substantiv: Störung – Verstörung – Zerstörung

Wirkliche Abgestorbenheit wäre daran zu erkennen, daß sie nicht mehr empfunden würde.

Ein Paradies, über dem das Damoklesschwert der Vertreibung schwebte, wäre keines (gewesen). Also musste es im Zustand der Unwissenheit bestehen, welcher die Menschen wehrlos ließ gegen die Verführung. Ein abgekartetes Spiel, wie man es auch betrachtet.

Religionen sind Gewänder des Glaubens, dieser selbst aber nur einer der Schleier der Gottheit, die man bekanntlich nicht lüften kann, ohne zu erblinden. Oder sie gliche Schichten einer Zwiebel, deren Entfernung gewiß nicht mehr zu sehen übrigließe. Deus sive natura kehrt jedem die Seite des Medusenhaupts zu, die er zu fassen gewillt ist: das gilt auch für den Nihilisten. Und wo eines abgeschlagen wird …

Was könnte es Absurderes geben, als die Idee, daß die zum wahren Verständnis der Existenz befähigende Erkenntnis erst eine Errungenschaft der letzten Jahrhunderte, wenn nicht bloß Jahrzehnte sei? – (Das Rhetorische der Frage ignorierend: Etwa, daß diese noch gar nicht vorhanden, sondern allenfalls von einer Armee an Apparaturen zu erwarten sei, deren Entwicklung gerade eben erahnt werden kann.)

Warum die Nachricht vom drohenden Aussterben vieler Arten nicht mehr Bestürzung auslöst? – Für die Natur sind Individuen nur Verschleissteile; für diese aber das Wissen um die eigene Sterblichkeit und um die der Liebsten schon der worst case; sodaß die Nachricht von der Vergänglichkeit auch der Gattungen einschließlich der menschlichen nur noch schulterzuckend und von der der Sterne und des ganzen Kosmos sogar nicht ohne eine gewisse Genugtuung zur Kenntnis genommen werden kann.

Notizen, August 2023

Alles hat seine Gründe, und die meisten werden wir nie kennen.

Das Opfer des Verstandes kann eine kranke Seele vielleicht beruhigen, aber nicht heilen.

Schriftsteller weben Texte notorisch wie Spinnen ihre Netze; und auch der Zweck und Nutzen ist bei beiden ungefähr der gleiche.

Die Tiefe im jedem – und wie verborgen, oft vor einem selbst. Aber auch nicht dazu da, ausgestellt und begafft zu werden.

Führt nicht die meiste Kunst nur dazu, daß der Mensch seinesgleichen vergötzt, und steht dem eigentlich geistigen Leben im Weg?

Das sprachartistische Moment ist dem Aphorismus zwar wesentlich, aber doch sekundär. Wo es überhand nimmt, leidet die Wahrhaftigkeit. Man kann zwar jedes Wort im Mund umdrehen, aber nicht immer stimmt, was dabei herauskommt. Zum Aphorismus braucht es eine paradoxe Intuition; er ist alles andere als ‚unmittelbar einleuchtend‘, aber doch nicht hermetisch.

Aphoristik ist zu unbotsam, um von der wissenschaftlichen Philosophie, und zu verbindlich, um von der schönen Literatur für sich reklamiert zu werden. Zwischen den Stühlen: diesen Gemeinplatz gestehen sie ihr zu, und wiegen ihre Indifferenz in gutem Gewissen.

Wer sich in seinen Einfällen zu sehr gefällt, verläuft sich leicht bei seinen Gedankengängen.

Ein gewisser Verfall des schriftlichen Ausdrucks scheint offensichtlich mit der elektronischen Mediatisierung einherzugehen. Aber es ist womöglich weniger diese als solche, sondern die Entstehung von Misch- bzw. Zwischenformen dafür verantwortlich. Die Flüchtigkeit und Unschärfe des gesprochenen Wortes verharrt in gespeicherten Mitteilungen. Dabei ähneln die hochfrequent ausgetauschten Textnachrichten eher Telefonaten als herkömmlichen Briefen. Literatur trägt dem bewußt oder unbewußt, kritisch oder unkritisch Rechnung, indem sie empirisch neu auftretende Ausdruckweisen teils zitierend einwebt, teils stilisierend ver-wendet, oder aber schlicht übernimmt. Dann bricht die Differenz zur Ebene des eigentlich Geschriebenen zusammen oder erst gar nicht mehr auf. Dergestalt werden Bücher, mit einem Ausdruck der Trivialsprache, zu Mogelpackungen; die offenkundig zwischen zwei Deckel gepressten Statusmeldungen sind da schon die ehrliche Ausnahme.

Künstliche Intelligenz müßte erst beweisen, daß sie ebenso gefährlich sein könnte wie natürliche Dummheit.

Ist nicht alle Musik auch Sirenengesang? Eine Droge, deren Abhängige sie an andere weiterreichen, um von deren Sucht zu profitieren. Rauschtrank, Opium, das die Seele zersetzt, Zeit und Gedanken vertreibt, das Böse verklärt, zur Verstrickung verführt, verdoppelte Maya.

Der gesunde Verstand ist eigentlich eine Ausnahmeerscheinung und wird eben deswegen gemeinhin für das Gegenteil gehalten.

Die Wahrheit des Aphorismus ist eine negative, kritische; seine Praxis sokratisch: Entlarvung vermeintlicher Gewißheiten, fragwürdiger Tugenden. – Das Herumreiten auf dem historischen Sokrates oder Platon ist allerdings ein sicherer Weg, einer aktuellen mäeutischen Praxis aus dem Weg zu gehen.

Man braucht wenigstens nicht mehr zu befürchten, sich in den Augen der literarischen Öffentlichkeit unmöglich zu machen, wenn sicher ist, daß sie niemals eines auf einen werfen wird.

Wenn man etwas zu seiner Gewissensangelegenheit macht, muß man es auch für sich behalten; ansonsten bürdet man sie nämlich andern auf.